Intelligenz in der Arbeitswelt

„Emotionale Intelligenz“ hat seit 1995, als das gleichnamige Buch des amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Daniel Goleman (1995,1997) erschien, weltweit viel Aufsehen erregt.1 Heute wird der Begriff emotionale Intelligenz (EI) vor allem mit dem Namen Goleman in Verbindung gebracht, obwohl dieser das Konzept nicht erfunden, sondern nur populär gemacht hat Die eigentlichen „Väter“ der emotionalen Intelligenz sind Peter Salovey, Professor für Psychologie, Epidemiologie und Gesundheitswesen an der Yale University, und John Mayer, Psychologieprofessor an der University New Hampshire. Sie führten 1990 den Begriff ein, der Fähigkeiten wie die Wahrnehmung eigener und fremder Emotionen, den angemessenen Ausdruck von Emotionen sowie die Regulation und Nutzung von Emotionen für Handlungen und Entscheidungen umfasst.2

„Praktische Intelligenz“ sieht der Erziehungswissenschaftler Howard Gardner im Werkzeuggebrauch und in handwerklicher Tätigkeit. Lern- und Entwicklungspsychologen betonen den konstitutiven Zusammenhang zwischen manueller Aktivität und Reifung der kognitiven und sprachlichen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter.

Salovey und Mayer wiederum hatten auch einige Vordenker. 1920 wurde erstmals von dem amerikanischen Psychologen Edward Lee Thorndike der Begriff „soziale Intelligenz“ verwendet, der heute eine lange Forschungstradition vorzuweisen hat Thorndike verstand darunter den Grad der Fähigkeiten eines Individuums, mit anderen zu kommunizieren, und unterschied diese Form der Intelligenz von der akademischen (abstrakten) und der praktischen (mechanischen) Intelligenz.3

Neben dem Konzept der sozialen Intelligenz beeinflusste auch die so genannte Theorie „multipler Intelligenzen“ von Howard Gardner, Erziehungswissenschaftler an der Harvard Graduate School, die beiden „EI-Erfinder“ Salovey und Mayer. Gardner wendet sich entschieden gegen ein Verständnis von Intelligenz als singuläre Eigenschaft des menschlichen Geistes. Daher erfuhr der Intelligenzbegriff 1983 durch Gardner die bis dahin weitestgehende Ausdehnung seiner Geschichte, denn Gardner postulierte mindestens sieben Intelligenzen (musical, bodily-kinesthetic, logical-mathematical, linguistic, spatial, interpersonal und intrapersonal intelligence).4

Intelligenz oder Kompetenz?

Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des Konzepts der emotionalen Intelligenz waren dabei die beiden „personalen Intelligenzen“, also die interpersonale Intelligenz (Zugang zum eigenen Gefühlsleben), und die intrapersonale Intelligenz (die Fähigkeit, die Gefühle, Stimmungen und Handlungsabsichten anderer Menschen wahrzunehmen). Gardners Theorie war revolutionär, weil sie weit über die gängigen Vorstellungen von Intelligenz hinaus ging. Er zeigte die Mannigfaltigkeit der menschlichen Begabungen auf und ebnete den Weg für die Entdeckung weiterer Intelligenzen, die heute selbstverständlich erscheinen, uns aber eher unter den Begriffen „Talente“ oder „Kompetenzen“ geläufig sind.

Auch Goleman leitete seine Grundideen von Gardners Theorie ab. Daneben inspirierten ihn neurowissenschaftliche Erkenntnisse, unter anderem das Buch „Descartes‘ Irrtum“ des Neurologen Antonio Damasio von der University of lowa. Damasio bezeichnet darin die Trennung von geistigen Prozessen und körperlichen Emotionen als einen fatalen Fehler; Bewusstsein sei ohne biologische Basis nicht vorstellbar.5 Diesen Gedanken griff Goleman auf und propagierte ebenfalls die Einheit von Körper und Geist, von Vernunft und Gefühl.

Neben Damasio führten auch die Forschungen des Neurobiologen und Hirnforschers Joseph LeDoux vom Center for Neural Science der New York University in den 80er- und 90er-Jahren zu neuen Erkenntnissen über die biologische Grundlage der Gefühle. Auch diese Ansätze griff Goleman auf. LeDoux erkannte die zentrale Rolle des Mandelkerns, eines mandelförmigen Gebildes, das oberhalb des Hirnstamms und nahe am limbischen System sitzt, für die emotionale Intelligenz. Der Mandelkern steuert zusammen mit dem Hippocampus die emotionale Wahrnehmung.6

EI als Metakompetenz

Goleman befasste sich insofern mit den bestehenden Intelligenzbegriffen sowie den neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und entwickelte daraus das Konzept einer emotionalen Intelligenz, bei dem es um den Umgang mit den eigenen Emotionen und denen anderer Personen geht. Für die emotionale Intelligenz sind nach Goleman vor allem folgende fünf Kompetenzen entscheidend:

  • Selbstbewusstheit / Selbstwahrnehmung (die eigenen Gefühle, Bedürfnisse, Motive und Ziele erkennen und verstehen),
  • Selbststeuerung / Selbstregulierung (die eigenen Gefühle und Stimmungen durch einen inneren Dialog konstruktiv beeinflussen und steuern),
  • Motivation (immer wieder Leistungsbereitschaft und Begeisterungsfähigkeit aus sich selbst heraus entwickeln können),
  • Empathie (sich in die Gefühle und Sichtweisen anderer Menschen hinein versetzen und angemessen darauf reagieren können),
  • Geschicklichkeit im Umgang mit anderen / Beziehungen managen (Kontakte und Beziehungen zu anderen Menschen knüpfen und solche Beziehungen auch dauerhaft aufrecht erhalten können).7

Daneben ist für die emotionale Intelligenz Kommunikationsfähigkeit unerlässlich. Darunter wird einerseits die Fähigkeit verstanden, sich klar und verständlich auszudrücken und seine Anliegen deutlich und transparent übermitteln zu können, andererseits die Fähigkeit, anderen Menschen aktiv und aufmerksam zuhören zu können und das, was sie sagen, zu verstehen und einzuordnen.

Der Mensch, das rationale und sprachbegabte Wesen, als Krone der Schöpfung? Auch Schimpansen können lernen, abstrakte Symbole zu verstehen und Werkzeuge instrumentell einzusetzen. Unter anderem das Wissen über die Intelligenz unserer nahen Verwandten hat zu einer Revision unserer Vorstellungen von Intelligenz geführt. Inzwischen setzt sich die Erkenntnis durch, dass es die „reine“ Vernunft, abgetrennt von Emotionen und Empfindungen, nicht gibt – sie ist eine Abstraktion.

EQ wichtiger als IQ?

Goleman schreibt über die El, sie sei eine „Metafähigkeit, von der es abhängt, wie gut wir unsere sonstigen Fähigkeiten, darunter auch den reinen Intellekt, zu nutzen verstehen.“8 Nach Goleman ist die EI eine grundlegende Persönlichkeitseigenschaft, die die Basis für soziale Kompetenz und Kreativität, Problemlösungsfähigkeit, Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit bildet. Goleman behauptet, dass es sich beim „EQ“ [ein Kürzel, das auf den Intelligenzquotienten anspielt, auch wenn Fragen der Messbarkeit noch weitestgehend ungeklärt sind) und IQ (dem Intelligenzquotienten, also der akademischen Intelligenz) um verschiedene Intelligenzen handele, an denen jeweils andere Hirnareale beteiligt seien, und dass der EQ dem IQ übergeordnet und überlegen sei. Nach Goleman ist der EQ für den Erfolg im Beruf und im Privatleben wesentlich bedeutsamer als der IQ.

Ohne emotionale Intelligenz, so scheint es, ist jede andere Fähigkeit nicht viel wert. Darüber hinaus behauptet Goleman, dass die “ im Verlauf des ganzen Lebens gesteigert“ werden könne.9 Er weicht damit von den bisherigen Erkenntnissen der Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie ab, die davon ausgeht, dass zumindest der IQ weitgehend angeboren und kaum veränderlich ist. Golemans Buch löste schon bald nach seinem Erscheinen eine Welle der Begeisterung und Euphorie aus, in den USA vor allem in den Bereichen Bildung und Erziehung, bei vielen Praktikern der Weiterbildung und bei Autoren populärwissenschaftlicher Bücher.

Es schien, als sei endlich der Stein der Weisen gefunden: Da war ein Autor mit wissenschaftlichem Hintergrund (Goleman hatte Psychologie studiert und war lange Jahre Herausgeber von „Psychology Today“ und Redakteur für Psychologie und Neurowissenschaften bei der „New York Times“), der den IQ, der bis dahin als wichtigstes Erfolgsindiz galt und einen elitären Nimbus hatte, vom Sockel stieß, der es wagte, sich über die bisherigen Forschungstraditionen und Lehrmeinungen hinweg zu setzen und ohne Rücksicht auf wissenschaftliche Rituale und Zwänge ein neues psychologisches Konzept zu propagieren. Golemans Theorie ließ es nicht mehr zu, Menschen als intelligent (d. h. gut, erfolgreich, beliebt) und dumm (d. h. schlecht, verachtens- oder bedauernswert) zu klassifizieren. „Plötzlich war der IQ nicht mehr das Maß aller Dinge“, kommentieren John Mayer, Peter Salovey und der Unternehmensberater David Caruso diesen Schritt. Stattdessen hat jeder die gleichen Ausgangsbedingungen, unabhängig von seiner sozialen Umwelt, seiner Gesellschaftsschicht oder seiner genetischen Veranlagung. Jeder kann emotional intelligent handeln und aktiv seine EI steigern.

Darüber hinaus schrieb Goleman als Erster der EI einen persönlichen und gesellschaftlichen Wert zu, etwas, was in der Wissenschaft nicht üblich ist. „Die entscheidende Wende von einem bis dahin blassen Konstrukt hin zu einer griffigen Erfolgsformel wird vollzogen, indem Goleman aus der Intelligenz eine Tugend macht“, kommentieren Hannelore Weber, Psychologieprofessorin an der Universität Greifswald, und ihr Kollege Hans Westmeyer von der Freien Universität Berlin. Die beiden Forscher sind der Meinung, dass Goleman mit seinem Intelligenzkonzept aufzeigt, was moralisch und sozial erwünscht ist. Denn ein emotional intelligenter Mensch sei selbstbeherrscht, heiter und gelassen, anderen wohlwollend zugeneigt und um ein friedvoll-konstruktives Miteinander bemüht – er ist also vor allem ein „guter“ und tugendhafter Mensch.

Einladung zur Tugendhaftigkeit

Die Sozialverträglichkeit macht Goleman zum entscheidenden Kriterium für die Angemessenheit oder Intelligenz von Verhalten. „Mit der Betonung der Sozialdienlichkeit schließt Goleman explizit an die in den USA populäre Forderung nach einer stärkeren Beachtung des Gemeinwohls und einer Abkehr vom Egoismus an, wie sie mit dem Schlagwort „Kommunitarismus“ belegt ist“, erklären Westmeyer und Weber. Sie meinen außerdem, dass Goleman zur Tugend einlade (der Mensch möge selbstbeherrscht, ausgeglichen, fürsorglich, gut sein und zugleich seinen Gefühlen folgen) und tugendhaftes Verhalten belohne, indem er es intelligent nenne. „Goleman macht aus der emotionalen Intelligenz ein attraktives Angebot für alle“, urteilen die Psychologen.

Golemans Buch „Emotionale Intelligenz“ verkaufte sich hervorragend; es hielt sich 80 Wochen auf der Bestsellerliste der „New York Times“, wurde in 30 Sprachen übersetzt, erschien in 50 Ländern und erreichte weltweit eine Auflage von fast fünf Millionen. Inzwischen hat Goleman weitere Bücher verfasst und ein Heer von Nachahmern gefunden, die versuchten (und noch immer versuchen), einer erfolgsorientierten Leserschaft das entsprechende Patentrezept zu verkaufen. Die Anzahl der Nachfolgetitel ist inzwischen unüberschaubar.10 Zudem tauchen in der Fachwelt immer weitere „Intelligenzen“ auf. So will beispielsweise der amerikanische Psychologieprofessor Robert Sternberg die „Erfolgsintelligenz“ entdeckt haben, die eine Kombination aus EQ und IQ darstellt und damit ein noch Erfolg versprechenderes Konzept sein soll als die emotionale Intelligenz.11 Und Seymour Epstein, emeritierter Professor für Persönlichkeitspsychologie an der University of Massachusetts, postuliert einen Zugang zur emotionalen Intelligenz über das „konstruktive Denken“.12 Besonders verwirrend sind die Vielfalt, die inflationäre Verwendung und Vermischung der Begriffe „emotional“, „sozial“, „Intelligenz“, „Kompetenz“. Die Begriffe werden häufig ganz nach Belieben kombiniert und scheinen für einige Autoren auch austauschbar zu sein. Wo letztlich der Gewinn für die Leserschaft liegt, ist nicht immer einsichtig.

Golemans Erfolgstheorie beflügelte auch den Weiterbildungsmarkt. Trainingsangebote schossen zunächst wie Pilze aus dem Boden. Dass Gefühle am Arbeitsplatz eine wichtige Rolle spielen und ernst genommen werden sollten, ahnte sowieso fast jeder – doch kaum jemand hatte es vor Goleman gewagt, dieses „heiße Eisen“ anzufassen. Gefühle zu zeigen, galt (und gilt) zumindest in den Führungsetagen der Wirtschaft als unprofessionell – viel zu stark ist die Angst, sich eine Blöße zu geben. Doch Gefühle sind immer da und beeinflussen unsere Entscheidungen und Handlungen mehr, als wir ahnen und uns lieb ist. Es ist zweifellos Golemans Verdienst, diese Mauer des Schweigens durchbrochen zu haben. Denn er zeigte nicht nur, wie wichtig Gefühle sind, sondern auch, dass man damit gezielt und konstruktiv umgehen kann. Nach Goleman sind wir unseren Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert, sondern können sie zügeln, steuern und für unseren Erfolg einsetzen. Dieses Versprechen löste Erleichterung aus bei all jenen, die bis dahin eine Irrationalität der Gefühle befürchtet hatten.

Zumindest darüber gibt es keinen Streit in der Wissenschaft: Die eigenen Gefühle zu kontrollieren, zu verstehen und zu steuern, ist ein lebenslanger Lern- und Bildungsprozess.

Ende der Euphorie

Doch mittlerweile hat sich die Euphorie gelegt, und es melden sich kritische Stimmen, insbesondere aus dem Lager der Wissenschaft. Diese hat sich mit ihrer Meinung auffällig lange zurückgehalten, ohne das Gefühl zu haben, einen wichtigen Impuls verschlafen zu haben. „Dass es sich bei der EI um eine Neuentdeckung handelt, ist ein Mythos, der von den Medien produziert wurde“, sagen der dänische Intelligenzforscher Reuven Bar-On und der kanadische Psychologe James Parker.13 Da die Idee nichts Neues biete, sei sie auch unnötig, urteilen einige Wissenschaftler und Praktiker. Schließlich seien Konstrukte und Trainings, bei denen beispielsweise Sensibilität, Kommunikationsverhalten, Konfliktlösungsfähigkeit, Selbstführung, Integrität, Loyalität und ein wertschätzender Umgang mit Kunden und Mitarbeitern im Vordergrund stünden, schon lange vor EI bekannt gewesen. Andere wiederum sehen durchaus Neuerungen, die über bekannte Konzepte hinausgehen.

Ein Kritikpunkt ist die Unschärfe des Konzepts. Tatsächlich legt sich Goleman auf keine Definition für EI fest und verwendet mehrere Bedeutungsvarianten. „Durch eine äußerst uneinheitliche Verwendung und unklare Fassung des Begriffs der EI bleibt auch der inhaltliche Bezug des Konzepts diffus. Daneben beeinträchtigen Verzerrungen, unbelegte Behauptungen und einseitige, teilweise unzulässige Interpretationen die Argumentation“, moniert die Wirtschaftswissenschaftlerin Barbara Sieben vom Institut für Management an der Freien Universität Berlin.14 Golemans Konzept stößt auch bei Forschern auf Widerstand, denen es nicht gelingt, es in den etablierten theoretischen Rahmen einzupassen.15 Sie kritisieren außerdem, dass er Persönlichkeitsmerkmale in sein Konzept integriert habe, die kaum etwas miteinander zu tun hätten und sich teilweise sogar widersprächen. Sein breit angelegtes Konzept führe schließlich zur Beliebigkeit. „Golemans Ei-Konzept beinhaltet emotionale Selbstaufmerksamkeit, emotionale Aufmerksamkeit für andere und darüber hinaus Widerstandsfähigkeit, Kreativität, Mitgefühl und Intuition – man fragt sich, welche erwünschten Merkmale nicht dazugehören“, bemerken Mayer, Salovey und Caruso.16

Kritisiert wird auch die Behauptung, EI sei erlernbar und trainierbar. Rainer Riemann, Professor für differenzielle und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Jena, geht zum Beispiel davon aus, dass das Ausmaß der EI wie das anderer Intelligenzen weitgehend angeboren und nur schwer veränderbar sei. Bis jetzt wurde jedenfalls noch kein Nachweis für die von Goleman behauptete „lebenslange Trainierbarkeit“ der EI erbracht.

Kritik an Kommerzialisierung

Darüber hinaus reagieren einige Wissenschaftler auf die Vermarktung und Kommerzialisierung des Konzepts deutlich ablehnend. Am schwersten aber wiegt die Kritik an der wissenschaftlichen Fundierung des EI-Konzepts. So bemerkt Sieben: „Goleman ignoriert die Tatsache, dass LeDoux‘ Forschungen auf Tierversuchen beruhen und dass daher die daraus gezogenen Schlussfolgerungen für das menschliche Gefühlsleben nur einen spekulativen Charakter haben.“17 Auch die „Überlegenheit“ der emotionalen gegenüber der akademischen Intelligenz sei nicht bewiesen. Eine klare Trennung zwischen diesen beiden Intelligenzen sei sogar unwahrscheinlich. Sieben geht in ihrer Kritik noch weiter und schreibt, Golemans Ei-Konzept sei wissenschaftlich nicht fundiert und entbehre jeder sachlogischen und empirischen Grundlage. Darüber hinaus sei die Übertragung der Vorteile der EI auf die Arbeitswelt fragwürdig. Nach Sieben ist die Erfolgsrelevanz der EI weder empirisch bewiesen, noch lasse sich ein systematischer Zusammenhang mit einem Arbeitserfolg belegen.18

Heute wird das EI-Konzept sowohl in der Wissenschaft als auch von Praktikern differenzierter beurteilt als in den 90er-Jahren. Ein Teil der Wissenschaftler verhält sich zurückhaltend oder übt harsche Kritik, wie zum Beispiel auch Heinz Schuler, Psychologieprofessor an der Universität Stuttgart-Hohenheim, der Golemans EI-Konzept als „rückschrittlich, irreführend, ignorant und unnötig“ bezeichnet (vgl. dazu auch das Interview in dieser Ausgabe auf den Seiten 62-67).19 In einigen Forschungseinrichtungen, zum Beispiel am Institut für Psychologie der Universität Kassel, beschäftigt man sich hingegen ausgiebig mit der El und versucht, Messinstrumente zu entwickeln.20 „Zurzeit wird vor allem untersucht, was emotionale Intelligenz ist und in welcher Beziehung sie zur akademischen Intelligenz und zu Persönlichkeitseigenschaften steht“, erklärt Riemann. Er empfiehlt, das EI-Konzept kritisch, aber auch wohlwollend zu betrachten. Vieles an Golemans Konzept sei zwar schon bekannt, aber dennoch sollten Forscher für solche Impulse offen bleiben.

„Emotionale Intelligenz ist nach wie vor ein wichtiges Thema, das in Unternehmen diskutiert und nachgefragt wird“, meint die Psychologin Elke Döring-Seipel von der Universität Kassel. Ihre Gespräche mit Führungskräften hätten ergeben, dass Emotionen in Organisationen sehr bedeutsam seien, aber völlig unzureichend behandelt würden. Die Nachfrage nach Seminaren zum Thema EI sei in den letzten Jahre jedoch stark zurückgegangen. Dieser Einschätzung schließt sich Rainer Riemann an, der Golemans EI-Konzept für eine Modewelle hält, die inzwischen abgeflaut sei. Auch die Unternehmensberaterin und Trainerin Karin Brämisch-Meyer aus Delbrück bestätigt den Rückgang. Die schwierige wirtschaftliche Lage, in der sich Deutschland momentan befindet, könnte eine Ursache dafür sein, dass andere Themen dringlicher sind und mehr Aufmerksamkeit finden als „weiche“ Faktoren wie El.

Daneben ist auch eine gewisse Ernüchterung eingetreten, da das Buch Golemans völlig überhöhte Erwartungen geweckt hat. Hinzu kommt, dass EI-Trainings bisher noch nicht wissenschaftlich evaluiert wurden – es gibt also (noch) keinen Beweis dafür, dass sich die Investitionen in die EI auch finanziell auszahlen. Brämisch-Meyer will jedoch auch einen gegenläufigen Trend ausgemacht haben: Das Interesse und der Informationsbedarf seien immer noch groß, und einige Unternehmen verhielten sich sogar antizyklisch. Sie würden gerade jetzt auf Soft Skills setzen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und sich von ihren Konkurrenten zu unterscheiden.

Durchaus wertvolle Anregungen

Dennoch sind sich selbst die Kritiker Golemans darüber einig, dass die Idee der EI, die teilweise über Konstrukte wie die soziale Intelligenz, Selbstregulation oder Copingverhalten hinausgeht, es wert ist, sich näher damit zu befassen. Das taten allerdings auch schon Forscher in früheren Zeiten. Bereits in den 20er-Jahren wurde herausgefunden, dass soziale und emotionale Bedürfnisse von Arbeitern mindestens genauso wichtig für deren Motivation sind wie Druck oder Belohnung. Inzwischen wurden viele Trainings und Maßnahmen entwickelt, um die soziale und emotionale Kompetenz von Beschäftigten zu verbessern. Beispielsweise gibt es im Gesundheitswesen Trainingsprogramme für Ärzte, um deren Empathie und kommunikative Fähigkeiten zu fördern. Polizisten werden ebenfalls in Trainings unterwiesen, die EI-Aspekte enthalten. Sie lernen unter anderem, ihre Gefühle in Stresssituationen im Griff zu behalten und mit den Reaktionen anderer umzugehen.21 Ohnehin hat die Beschäftigung mit Emotionen in der Arbeitswelt eine lange Tradition. Zum Beispiel wurden Aggressionen, die Mobbing-Verhalten auslösen, oder Ängste, die zu Fehlzeiten oder innerer Kündigung führen, schon häufig und intensiv untersucht.

Bemühungen, Emotionen zu erfassen und emotionale Kompetenzen zu fördern, gibt es also schon lange. Golemans Leistung besteht vermutlich darin, darauf überzeugend hingewiesen zu haben. Dass seine Forderung, Emotionen nicht zu vernachlässigen, sondern sie zuzulassen und zu steuern, durchaus sinnvoll ist, will ihm kaum jemand absprechen. Die Diskussion, die Goleman angestoßen hat, wird – um den ‚Marketingeffekt‘ bereinigt – kaum so schnell in Vergessenheit geraten. Und da immer mehr Tätigkeiten emotionale und soziale Qualitäten wie Selbstvertrauen, Flexibilität, Empathie und die Fähigkeit, mit anderen erfolgreich zusammenzuarbeiten, erfordern, wird die EI in Zukunft vielleicht sogar zur entscheidenden Schlüsselqualifikation avancieren.

Marion Sonnenmoser, Personalführung, 12/2002

Dr. Marion Sonnenmoser
ist Diplompsychologin und freie Wissenschaftsjournalistin mit dem Schwerpunkt Psychologie in Landau / Pfalz.

Anmerkungen

1
Goleman, Daniel: Emotional Intelligence: Why it Can Matter More than IQ. New York, 1995; in dt. Übersetzung als: Emotionale Intelligenz. München, 1996
2
Salovey, Peter/Mayer, John D.: Emotional Intelligence. In: Imagination, Cognition, and Personality, 9(3) 1990, pp. 185-211
3
Thorndike, Edward Lee: Intelligence and its Use. In: Harper’s Magazine, 140/1920, pp. 227-235
4
Gardner, Howard: Frames of Mind: The Theory of Multiple Intelligences. New York, 1983; Gardner, Howard: Multiple Intelligences: The Theory in Practice. New York, 1993
5
Damasio, Antonio R.: Descartes‘ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München, 1995
6
LeDoux, Joseph: Sensory Systems and Emotions. In: Integrative Psychiatry, 4/1986; LeDoux, Joseph: Emotion and the Limbic System Concept. In: Concepts in Neuro-science, 2/1992, pp. 169-199
7
Goleman, 1995, siehe Anm. 1
8
Ders., 1996, siehe Anm. 1, S. 56
9
Ebd., S. 291
10
Döring-Seipel, Elke/Sänne, Christoph: Emotionale Intelligenz. In: Gruppendynamik, 30(1) 1999,5.37-50
11
Sternberg, Robert: Erfolgsintelligenz. München, 1998
12
Epstein, Seymour. Constructive Thinking. The Key to Emotional Intelligence. Westport, 1998
13
Bar-On, Reuven / Parker, James: The Handbook of Emotional Intelligence. San Fransisco, 2000
14
Sieben, Barbara: Emotionale Intelligenz -Golemans Erfolgskonstrukt auf dem Prüfstand. In: Georg Schreyögg / Jörg Sydow: Emotionen und Management. Wiesbaden, 2001, S. 135-170; dies.: Emotionale Intelligenz: Die Tücken eines Trends. In: Zeitschrift für Personalpsychologie, 1/2003 (in Druck)
15
Mayer, John / Salovey, Peter / Caruso, David: Emotional Intelligence as Zeitgeist, as Personality, and as a Mental Ability. In: The Handbook of Emotional Intelligence. San Fransisco, 2000, pp. 92-117
16
Dies., a.a.O., S. 102
17
Sieben, Barbara, siehe Anm. 15, S. 144
18
Dies., a.a.O., S. 154
19
Schuler, Heinz: Emotionale Intelligenz – ein irreführender und unnötiger Begriff. In: Zeitschrift für Personalpsychologie, 3/2002, S. 138-140
20
Otto, Jürgen H. / Döring-Seipel, Elke/Grebe, Martin / Lantermann, Ernst-Dieter: Entwicklung eines Fragebogens zur Erfassung der wahrgenommenen emotionalen Intelligenz. In: Diagnostica, 47/2001, S. 178-187
21
Cherniss, Cory:Social and Emotional Competence in the Workplace. In: Reuven Bar-On/James Parker, siehe Anm. 13, S. 433-458